Nun legt das Verbundprojekt seine Halbzeitbilanz vor: Beim diesjährigen Konsortialtreffen in Schwerin wurden politische Herausforderungen und unternehmerische Ansätze auf dem Weg zum Wasserstoff-Hochlauf diskutiert. Trotz Verzögerungen durch Energiekrise und unklare gesetzliche Rahmenbedingungen schreiten die geplanten Vorhaben voran und stellen wichtige Weichen für die industrielle Transformation.
Das im April 2021 gestartete Norddeutsche Reallabor zielt darauf ab, energieintensive Verbrauchsbereiche auf klimaneutrale Energiequellen umzustellen – insbesondere in der Industrie, aber auch in der Wärmeversorgung und der Mobilität. Der Fokus liegt dabei auf der Entwicklung von Technologien zur wasserstoffbasierten Sektorenkopplung und der Erschließung industrieller Abwärme. Wenn alle im Norddeutschen Reallabor geplanten Referenzanlagen in Betrieb gegangen sind, können mehr als 350.000 Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden. Dazu arbeiten 50 Partner aus Industrie, Energiewirtschaft, Wissenschaft und Politik eng vernetzt in neun thematischen Arbeitsgruppen. Unterstützt werden Sie dabei von den Landesregierungen der drei norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Neben der Eigeninvestition der Projektpartner wird das Projekt gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Rahmen des Förderprogramms „Reallabore der Energiewende“ sowie vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV).
Schweriner Dialog zur industriellen Transformation
Am 1. Dezember kamen die Projektpartner nun im Schweriner Schloss zusammen, um gemeinsam eine Halbzeitbilanz zu ziehen. Zugegen waren auch Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer, Henning Mümmler-Grunow, Leiter der Abteilung für Klimaschutz und Energiewende aus dem Klimaschutzministerium Schleswig-Holstein (in kurzfristiger Vertretung für Staatssekretär Joschka Knuth), und Anselm Sprandel, Amtsleiter für Energie und Klima bei der Hamburger Umweltbehörde. Die Hamburger Wirtschaftssenatorin Dr. Melanie Leonhard sendete ein Videogrußwort. Gemeinsam mit Thomas Murche, Technischer Vorstand der Schweriner WEMAG und Marco Alken, Hamburger Werksleiter der Trimet Aluminium SE diskutierten die geladenen Politiker die energiepolitischen Herausforderungen beim Aufbau einer norddeutschen Wasserstoffwirtschaft.
Anschließend stand das Norddeutsche Reallabor selbst im Mittelpunkt: Vorhaben aus dem Bereich der Verkehrswende, der Wärmewende und der industriellen Transformation wurden von den Projektakteuren vorgestellt. Auch die Entwicklungen und Auswirkungen der notwendigen Änderungen in der Regulatorik und den sich in dem Zusammengang entwickelnden Marktmechanismen wurden thematisiert. Dabei wurde der besondere Zuschnitt des Norddeutschen Reallabors für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft deutlich: Das länderübergreifende Verbundprojekt nimmt keine Einzellösungen, sondern die ganzheitliche Transformation unseres Energiesystem in den Blick: von der Wasserstofferzeugung über dessen Transport bis zum Verbrauch in den verschiedenen Sektoren.
Meilensteine für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft
Bis 2026 werden alle Referenzanlagen des NRLs in Betrieb gehen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren Projektlaufzeit konnte das Vorhaben wichtige Meilensteine erreichen:
- Der Aufbau regionaler Elektrolysekapazitäten für die Erzeugung von grünem Wasserstoff schreitet voran: Für einen 1-MW-Elektrolyseur der Stadtreinigung Hamburg am Standort des Biogas- und Kompostwerkes Bützberg ist inzwischen ein Hersteller gefunden. Hier soll Wasserstoff in der Bioabfallvergärung eingesetzt werden, um den Methananteil im Biogas zu steigern. Der Genehmigungsantrag der HAzwei GmbH für einen 25-MW-Groß-Elektrolyseur im Hamburger Hafen, der die ansässige Industrie mit Wasserstoff versorgen soll, wurde ebenfalls eingereicht und wichtige Komponenten vorbereitet. Auch die WEMAG wird im Rahmen des Norddeutschen Reallabors einen Elektrolyseur errichten. Als Standort wurde Leizen bei Plau am See ausgewählt und die Planungen deutlich präzisiert. Ein Elektrolyseurtestfeld, das Hydrogen Lab Bremerhaven, das Anfang November dieses Jahres vom Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES in Betrieb genommen wurde, ist ebenfalls mit dem NRL assoziiert.
- Auf der Abnehmerseite für Wasserstoff bereitet zum Beispiel der Multi-Metall-Produzent Aurubis nach Vorarbeiten im Rahmen des Norddeutschen Reallabors den Umbau eines Anodenofens vor und wird diesen im kommenden Jahr umsetzen, um diesen Prozessschritt künftig klimaneutral betreiben zu können.
- Bereits gegen Ende 2022 konnte die H&R Ölwerke Schindler eine neue Power-to-Liquid-Anlage im Hamburger Hafen in Betrieb nehmen. Hiermit werden zukünftig E-Fuels für den Straßen- und Schienenverkehr sowie Wachse zur Anwendung in der Kosmetik, Pharmazie und Lebensmittelindustrie hergestellt.
- Die Stadtreinigung Hamburg hat im Sommer dieses Jahres zwei Brennstoffzellen-Abfallsammelfahrzeuge in Betrieb genommen, gefördert durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV). Fünf Linienbusse mit Brennstoffzellentechnologie für die Hamburger Hochbahn AG sind ebenfalls im Rahmen des Norddeutschen Reallabors bestellt worden. Es folgen Gepäckschlepper für den Hamburg Airport. Diese Nutzfahrzeuge werden im Regelbetrieb eingesetzt, um die Alltagstauglichkeit grüner Mobilität zu demonstrieren und die spezifischen Anforderungen an Geschäfts- und Betreibermodelle zu untersuchen.
- Mit einer großen Gesellschaftsstudie hat das NRL im Jahr 2022 gezeigt, dass in der Bevölkerung zwar ein hohes Umweltbewusstsein, allerdings auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Machbarkeit der Energiewende besteht. Die Akzeptanz für Wasserstoff ist in der breiten Öffentlichkeit eher hoch, auch wenn der Wissensstand noch gering ist. Das Norddeutsche Reallabor wird mit seinen Referenzanlagen demonstrieren, wie die Energiewende gelingen kann und welche Rolle eine wasserstoffbasierte Sektorenkopplung dafür spielt.
- In einer aktuellen Studienreihe des Competence Centers für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz der HAW Hamburg bewertet das Norddeutsche Reallabor Potentiale und Grenzen des Einsatzes von grünem Wasserstoff im Gebäudesektor, im Straßenverkehr und in der Industrie. Deutlich wird, dass der Einsatz von grünem Wasserstoff aus ökonomischen Gründen priorisiert werden muss. Die hohen Wasserstoffgestehungskosten verlangsamen auch den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft für die Industrie auf Basis lokaler Elektrolysekapazitäten oder Importen, weil fossile Energieträger im direkten Vergleich noch günstiger sind.
Verzögerungen durch Energiekrise und Gesetzeslage
Aller Erfolge zum Trotz ist allerdings auch das Norddeutsche Reallabor von den Folgen gegenwärtiger Krisen nicht unberührt geblieben. Energiekrise, Inflation und Lieferkettenengpässe beeinflussen die tägliche Arbeit in dem ambitionierten Großprojekt genauso wie in anderen Wirtschaftszweigen. Daher kommt es auch im NRL zu Verzögerungen bei der Inbetriebnahme einiger Referenzanlagen. Auch die unklare Gesetzeslage zu grünem Wasserstoff, die Kostensteigerungen für Elektrolyseure und die hohen Energiekosten machen den Projektpartnern zu schaffen.
Unbeachtet aller Schwierigkeiten schreitet das Projekt jedoch weiter voran und setzt wichtige Impulse für den Aufbau einer norddeutschen Wasserstoffwirtschaft, betont NRL-Projektkoordinator Mike Blicker vom Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg: „Wir treten mit dem Norddeutschen Reallabor jetzt in die entscheidende Ergebnisphase ein. In den kommenden zweieinhalb Jahren werden wir wichtige Referenzanlagen an den Start bringen, die zeigen, wie der Transformationspfad zur Klimaneutralität aussehen muss. Durch Großprojekte wie das NRL kann das energiereiche Norddeutschland seine Vorreiterrolle für die Energiewende weiter ausbauen und den Weg für den Umbau unserer Energieversorgung ebnen.“
Statements zum NRL-Konsortialtreffen
Reinhard Meyer, Minister für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit des Landes Mecklenburg-Vorpommern:
„Das Norddeutsche Reallabor leistet mit einem breiten Spektrum an Projekten, die von der Wasserstofferzeugung über Mobilitätslösungen bis hin zur Wärmenutzung reichen, einen entscheidenden Beitrag. Diese Projekte stimulieren wirtschaftliche Impulse für die Entwicklung von Zukunftsmärkten und stärken zugleich auch die Wettbewerbsfähigkeit der ansässigen Unternehmen durch den Einsatz klimafreundlicher Technologien. Für uns in Mecklenburg-Vorpommern ist es wichtig, Teil dieser innovativen Initiative zu sein. Gemeinsam mit dem Norddeutschen Reallabor und unseren Partnern arbeiten wir daran, unser Bundesland zu einem Vorreiter in der Nutzung und Anwendung von Wasserstofftechnologien zu machen. Unser Ziel ist es, eine nachhaltigere Zukunft für unsere Region zu schaffen und gleichzeitig die volkswirtschaftlichen Chancen, die sich durch neue Technologien und Wertschöpfungsketten ergeben, zu nutzen“.
Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Wirtschaft und Innovation der Freien und Hansestadt Hamburg:
„Dürren, Überschwemmungen, Stürme und Waldbrände sind Folgen des Klimawandels, die auch schon heute ökonomische Auswirkungen auf die Welt haben. Im Norddeutschen Reallabor arbeiten rund 50 Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an konkreten Lösungen, wie uns die Transformation unseres Energiesystems gelingt. Hier werden nachhaltige Innovationen erprobt, wirtschaftliche Impulse ausgelöst und der Industriestandort Norddeutschland gestärkt. Die Erforschung und Erprobung neuer Energieträger und Technologien braucht gute Zusammenarbeit, denn nur in einem starken Verbund werden wir die Dekarbonisierung erfolgreich voranbringen.“
Joschka Knuth, Staatssekretär im Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein:
„Das Norddeutsche Reallabor verbindet in hervorragender Weise die Kompetenzen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik - so bringen wir den Klimaschutz voran und schaffen innovative sowie technisch und wirtschaftlich tragfähige Lösungen für die Energiewelt von morgen. Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen benötigen wir mehr denn je hoffnungsvolle Positivbeispiele für das Gelingen der Energiewende; das Norddeutsche Reallabor ist eines davon.“
Thomas Murche, Technischer Vorstand WEMAG AG und Mitglied der NRL-Projektsteuerungsgruppe:
„Der Hochlauf der Wasserstoffindustrie kann nur gelingen, wenn alle Teile der Wertschöpfungskette ineinandergreifen. Die WEMAG ergreift die Chance, die sich aus der Sektorenkopplung ergibt. Wir wollen im Ausbau der Power-to-X-Technologie in unserer Region einen Beitrag leisten.“
Über das Norddeutsche Reallabor
Das Norddeutsche Reallabor (NRL) ist ein innovatives Verbundprojekt, das neue Wege zur Klimaneutralität aufzeigt. Dazu werden Produktions- und Lebensbereiche mit besonders hohem Energieverbrauch schrittweise defossilisiert – insbesondere in der Industrie, aber auch in der Wärmeversorgung und dem Mobilitätssektor. Hinter dem im April 2021 gestarteten Projekt steht eine wachsende Energiewende-Allianz mit mehr als 50 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das Großprojekt hat eine Laufzeit von fünf Jahren (04/2021-03/2026). Das Investitionsvolumen der beteiligten Partner beträgt über 405 Mio. Euro. Das NRL ist Teil der Förderinitiative „Reallabore der Energiewende“ und wird mit rund 55 Mio. Euro durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert. Weitere Fördermittel werden durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) bereitgestellt. Das NRL versteht sich als ausbaufähige Plattform auch für weitere Projekte.
Foto: NRL